Autobahnausfahrten


Lachen: eine plötzliche Eruption und alle machen mit. Der Abstand zwischen dem ersten und dem letzten Lachen ist kaum messbar, eine feine Hackordnung derjenigen, die am Mittagstisch draußen in der Sonne am lautesten reden, am meisten Ahnung haben, in der Mitte sitzen. Es geht um Autobahnausfahrten. „Nimmst du die A120 oder die B62 und dann auf die L46?“ – „Die A120 ist viel kürzer!“ – „Du weißt aber schon, dass da ne Baustelle kommt, bis nächstes Jahr!“ – „Na, deswegen nehm ich die B62 und die L46...“ – „Die L46 ist für Weicheier!“ Wieder Lachen. Alle wollen mitreden und jeder zeigt seine Expertise. Schritt für Schritt entwickelt sich das Gespräch. Bis jemand das Niveau nicht mehr halten kann und Unwissenheit – oder Unsicherheit – zeigt. Es folgt eine schnelle Offensive. Touché. Ein Aufstieg in dieser Ordnung ist möglich: Erstens durch eine treffende Pointe – quasi ein Überspringen der nächsten Stufen der Expertise – und zweitens durch Erklimmen einer höheren Lach-Lautstärke, die diejenigen, die ehemals über einem gelacht haben, nun unter sich begräbt. Aber Achtung: Wenn du dich überschätzt, wenn du zu laut lachst, also zu viele Stufen auf einmal nimmst, dann erstickst du die Stimmung in der Gruppe, erntest stille Missbilligung. Oder, noch schlimmer, die Blicke der Kollegen wenden sich peinlich amüsiert um (was will der denn?) und es wird – im ungünstigsten Fall – nun über dich gelacht. Was bleibt dir da anderes übrig, als verlegen mitzulachen, über dich selbst, deine Dummheit, wie ein Hund wirfst du dich auf den Rücken, um Demut zu zeigen, dein Lachen ein dümmliches Winseln, um die gegebene Ordnung wiederherzustellen. In der Hackordnung einmal nach unten gerutscht besteht kaum eine Chance auf erneuten Aufstieg, nicht mehr in dieser Mittagspause.

 

Keiner weiß, wer das Gespräch über Autobahnausfahrten begonnen hat. Ein häufiges Thema. Unterwegs vom Büro zum China-Restaurant ist es vielleicht der Weg selbst, der das Thema vorgibt. Der Weg ist immer das Thema am Ziel und andersherum. Der größte gemeinsame Nenner außer der Zeit im Büro: Autobahn. Kleine Autos mit hässlichen Stoffbezügen in schwarz mit bunten Figuren drauf fahren im Schneckentempo auf der B62 oder der L46. Größere Autos mit gemütlichen Ledersitzen in braun gleiten über die A120 und ärgern sich über kleinere Autos, die nicht auf der B62 und L46 geblieben sind, wo sie hingehören, aber nicht über die ganz großen Autos in schwarz und dunkelblau, von denen weiß man aber nur wenig, denn die gehen nicht mit zum Mittagessen beim Chinesen. Dort steht ein rustikaler Tisch auf dem Bürgersteig mit Bierbänken an beiden Seiten. An den Kopfenden jeweils ein, auch mal zwei Stühle. Die Nachzügler tragen sie vom Nachbartisch herüber und setzen sich dazu, zur Not auch an die Tischecke; bei anderen wird auch schon mal auf der Bierbank gerutscht und Platz gemacht. Hier sitzen sie entspannt in der Sonne, ihre Körperhaltung ist offen, leicht nach hinten gelehnt. Andere sitzen dicht am Tisch, der Bauch berührt die Tischplatte, der Oberkörper streckt sich über den Tisch den anderen Kollegen entgegen, möglichst nah dran am Gespräch. An den Kopfenden sitzt man schlecht, insbesondere wenn dort zwei Stühle Platz finden müssen und man sich auf die Ecken verteilen muss. Heute sitzt du mit auf der Bank, aber mit einer fast unmerklichen Distanz zur Tischplatte. Dein Oberkörper ist zwar nach vorne gebeugt, aber viel steifer, und du schaust etwas auf dem Tisch an, einen Bierdeckel in deiner Hand, als ob es dort etwas Interessantes zu lesen gäbe. Komm, sag auch etwas, du musst nicht viel reden, zuhören ist in Ordnung, aber gar nichts sagen könnte wie Ablehnung wirken. Du sagst: „Also ich wurde neulich geblitzt wegen so einer blöden Baustelle. Ehrlich gesagt schon ein paarmal, ich habe deswegen schon Punkte in Flensburg.“ Schweigen, aber anerkennendes Nicken. Ein Kollege: „Ja, da musst du echt aufpassen. Das geht ratzfatz. Ich weiß mittlerweile, wo die Blitzer stehen. Aber ist mir früher auch passiert.“ Gut gemacht. Die Ordnung ist stabil. Jetzt kannst du wieder schweigen bis das Essen kommt.

 

Auch die Reihenfolge, in der das Essen serviert wird, folgt der Ordnung – oder besser: sollte ihr folgen. Und so bekommt die Situation eine gewisse Spannung: Wessen Essen kommt zuerst? Bekommt der Praktikant sein Essen zu früh, erntet er belustigte Kommentare: „Oh, heute mal der erste, wie!“ – Lachen. Muss ein langgedienter Mitarbeiter warten: „Dein Essen steht wohl noch im Stau!“ – Lachen. Bringt der Kellner nur einen Teller zum Tisch: „Einer nach dem anderen, überholen verboten!“ – Lachen. Es geht immer sehr lustig zu beim Mittagessen und das liegt auch am Thema Autobahnausfahrten, denkst du. Es gibt ja auch sonst kein gemeinsames Thema. Und daher entlädt sich immer wieder beim Mittagessen ein Lachen, das alle in der Gruppe vereint, auch wenn jeder für sich lacht. Die Augen weiten sich, die Gesichter strahlen, die Brust schwillt und dann: eine Eruption der Freude. Doch zu laut, um wirklich heiter zu sein, und zu kurz, um echte Ergriffenheit zu enthüllen. Das Warten auf das Essen wird einfach weggelacht. Die Situation im China-Restaurant einfach weggelacht. Kleine Pannen in der Kommunikation unter Kollegen einfach weggelacht. Die ganze Peinlichkeit der Hackordnung einfach weggelacht. Dieses elende Gerede über das Leben, wer wir sind und was wir denken, einfach weggelacht. Lachen und Autobahnausfahrten. Das Ziel ist das Ziel und nicht der Weg.