Gleiches

 

Kapitel 1: Eine Straße vor dem Fenster

 

(Das erste Kapitel - in dem H. seine Bestimmung zunächst im Tagebuch-Eintrag des berühmten Bergsteigers L. und dann einer Pfütze zu erkennen glaubt. Wir werfen einen Blick in H.s Wohnung und werden unsererseits feststellen, wie wenig H. in die Zeit passt)

 

Buchstabe für Buchstabe, Mensch für Mensch. Wenn ich am Fenster zur Straße vorbeikomme, was am Nachmittag seltener als vor dem Mittagessen vorkommt, dann kann ich nicht anders, als eben genau das zu denken. Manchmal sage ich es sogar laut vor mich hin, ein paar Mal sage ich dann: „Buchstabe für Buchstabe, Mensch für Mensch.“ Oder ich sage schnell „Buchstabefürbuchstabemenschfürmensch. Buchmenschfürstabmenschbuchfürmensch.“ Und so weiter. Man könnte sagen, oder ich sage mir das dann, dass eine kleine Übertreibung, eine an sich doch vollkommen harmlose Überzeichnung der Situation in der man steckt, keine allzu große Sache sein sollte. Außerdem habe ich Urlaub. Was meine Wohnung zu einem kleinen Abenteuerspielplatz macht. Meine Wohnung verändert sich, ob das mit dem Licht zusammenhängt, der Temperatur, der Thermostat ist auf zweieinhalb gestellt. Woran kann es noch liegen? Weitere Eckdaten: Luftfeuchte und -druck. UV-Strahlung, Schalldruck? Druck und Schall – genau davon bin ich die nächsten zwei Wochen befreit. Keine Abgabetermine, keine Sitzungen, keine Demütigungen (am schlimmsten: die ganz diffusen, kleinen, mit Blicken injizierten). Wenn ich also mein Menschen- und Buchstaben-Mantra hier in der Wohnung und am Fenster stehend aufsagen kann, dann, fühlt mein Hirn sich relativ wohl. Da oben schwimmt es in seiner lauwarmen Lake aus klebrigem „Liquor“, dem Hirnwasser. Meine Schädelbasis als Badewanne und mit dem Rückenmark wie mit einer Nabelschnur verbunden mit dem, was auch noch zu „Ich“ gezählt werden muss: Dem Muskelmann, dem Darm-Mann, dem Schwanz-Homunkulus. Und da draußen immer noch die Menschen, die wie Buchstaben in einem Wort auf der Bank in der Bushaltestelle sitzen oder in der Schlange an der Kasse im Supermarkt stehen. Und die Buchstaben auf den Plakaten. Gruppen, die in dieser Konstellation plötzlich etwas „ausdrücken“. Wie kleine Personengruppen, die still für kalorienreduzierten Orangensaft oder Discount-Solarien oder Geländewagen demonstrieren. Buchstaben. Und Menschen. Und all das zusammen. Und das bringt mich auf den Bergsteiger L. Das Tagebuch des Bergsteigers L. Liegt, schon zur Hälfte gelesen, auf dem Küchentisch. Ohne es aufklappen zu müssen weiß ich, welchen Tag im Bericht des Bergsteigers die als Lesezeichen eingeknickte Ecke markiert: Es ist Freitag, der 23.6.1977:

 

„Die Zeltwand schlägt gegen das Gesicht, ich kann nicht schlafen, der Wind hört und hört nicht auf. 5740 Meter. Ted hat sich umgedreht, den Rücken zu mir. Er kann schlafen, oder er tut so. Es ist mir gleich, morgen früh geht es weiter. Die Blase. Ich überlege noch einmal raus zu gehen, im Schutz des Felsens mich zu erleichtern. Was für ein wohliger Schlaf würde dann kommen, wenn der Harndrang mich nicht ständig an den fundamentalen Nachteil dieser Expedition erinnern würde: Wie ungemütlich, unpraktisch, unmenschlich und unschön das alles hier mittlerweile geworden ist. Ted macht das auch keinen Spaß mehr, das weiß ich. Ich weiß es seit heute Morgen. Er sagte, bei ihm sei bei den letzten Malen Blut gekommen. Vielleicht schon früher, aber beim nächtlichen Urinieren habe er nicht auf die Farbe des Harnstrahls geachtet. Der Mond war auch zu oft mit Kumuluswolken verhangen; es stimmt: Wie hätte er das erkennen sollen? Wären wir in Utah, in Aurora, er wäre sofort zu einem Arzt gegangen. Zu Dr. Shelby vermutlich. Zumindest für eine erste Einschätzung, einen ersten Befund. Hier oben, so weit im Osten ist von Dr. Shelbys ordnenden, wahrscheinlich beruhigenden Worten natürlich nichts zu vernehmen. Zehntausende Kilometer „fern der Heimat“. Ich weiß nicht ob Ted Angst hat.“


Man kann, was die Qualität der Übersetzung von L.s Aufzeichnungen angeht, natürlich geteilter Meinung sein. Mir kommt es manchmal so vor, als wäre der ironische Unterton in L.s Worten so nicht vorgesehen. Als habe der Übersetzer in L. einen Scherzkeks, einen Alpinisten-Kobold gesehen, fälschlicherweise, wie ich annehme. Ich kenne L. aus Filmen, aus Magazinberichten mit Fotostrecken.