Mare Tranqulitatis - Meer der Ruhe

 

15:07 Uhr. Aufzug im Redaktions­hochhaus des P.­-Anzeigers. Blech und Resopal, hellgrauer Linoleumboden. Winziger Aschenbecher aus Gussmetall, rechts neben der Tür, daneben die Schalttafel. Sechs Stockwerke. Plus Keller. Jetzt etwa auf Höhe der fünften Etage. Richtung: Abwärts. Der Redakteur Bernhard L. hat auch diese Konferenz, trotz vorangehender Vorbehalte, ja dem Anflug von Angst (vier Augenpaare, die Chefredaktion), hinter sich gebracht. Was ihn gerettet hat, war nicht nur eine sofort verwertbare Idee für die Konzeption der neuen Beilage (jeden Samstag, Schwerpunkte: Kulinarisches, Wohnen, Sport und Heimwerken), sondern auch eine kleine Tagträumerei, ausgelöst durch eine Reihe von Bildern, die dieser Tage das Layout, die Schreibtische der Redakteure, die Bildschirmschoner und den Umbruch der Zeitungsseiten bestimmen. Bilder von absoluter Gültigkeit, in denen der Kontrast zwischen dem samtschwarzen Dunkel eines sternlosen Himmels und einer hellgrauen, leicht hügeligen, gips­staubigen Landschaft zeigen. Bilder, die sich den weit gereisten Astronauten der Apollo I-Mondmission am 20. Juli 1969 um 21:17 Uhr Mitteleuropäischer Zeit dargeboten hatte. Die Raumfahrer hatte L. entgegen der Darstellung des Zweiten Deutschen Fernsehens eher als unterkühlte, vakuumierte Versuchskaninchen wahrgenommen, als Ritter in lächerlichen Rüstungen aus Plüsch und Frottte. Aber kein Wort darüber zu den Kollegen in der Redaktion, waren sich doch ausnahmslos und ausnahmsweise alle einig über die gesellschaftliche Relevanz der Begehung dieser öffentlichen Örtlichkeit. Eigentlich waren ja die menschenlosen grünen Hügel Schottlands und die steil angeschnittenen Küstenfelsen, die den sturm­getriebenen Wellen eines trotzig­ruhelosen Atlantik immerzu und immer wieder standhielten, sein Non-plus-ultra in Sachen Landschaft. Aber die wasserlose Landschaft in den atemlosen Weiten des mare tranquilitatis reizten L.s Phantasie nun mindestens genauso. Und so hatte er das goldschimmernde Sonnenvisier seines imaginierten Helms heruntergeklappt und begann im Stehen vor sich hinzudösen. Einzig die Ansagen des Ressortleiters T. hätten ihn noch aus seinem halbträumerischen Gedanken herausholen können, gleich den Ansagen einer besorgten Bodenkontrolle. Doch es kam nichts und so wartete er. Und wartete. Und wartete. Und in seinen Gedanken begann sich die reale Welt der Zeitungsredaktion mit der Welt des mare tranquilitatis auf wundersame Weise zu vermischen.

 

Unterwasser, unbestimmbare Tiefe, vermutlich aber näher der Oberfläche als dem Grund, graues, trübes Licht, das von allen Seiten zu kommen scheint.  Aus mittlerer Entfernung und von schräg rechts oder links kommend, treibt ein Fischwesen in meine Richtung. Hier sind Farben zu erkennen, nichts außer Grau, Grün und Schwarz. Nichts weiter. Was für ein Wesen? Es verbindet das Aufrechte, Vertikale eines Menschen mit der Spindelform eines horizontal treibenden Fisches. Aber nicht in einer Form. In der Ferne scheinen die beiden geometrischen Grundausrichtungen zu oszillieren, ein Verwirrspiel im trüben Wasser der Gedanken. Ich erinnere mich, aber falsch? Möglich, dass das Wesen keine hybride Form war – gemessen an der Wirklichkeit.  Es ist aber unerheblich, denn es geht immer nur um das, was gerade dann geschieht. Ich sehe: das Wesen ist nicht frei und für sich allein, wenn es im grauen Wasser schwebt. Es ist in eine Halterung eingebunden oder gar angekettet. Vielleicht ist es auch eingewachsen in einem aus Gittern zusammengesetzten Gehäuse. Stäbe oder Seile, die sich im Körper des Wesens kreuzen, rechtwinklig aber in jedem Fall. Ich denke an einen Einkaufskorb, lächerlich. Dann erkenne ich endlich: das Wesen, der Fischmensch, ist Träger einer rechtwinkligen Konstruktion aus Seil, Holz und Metall, das wie ein Korsett in sein weiches, helles Fleisch schneidet. Trägt er die Konstruktion oder wird er getragen? Schwebt er frei oder wird er getrieben?  Nun, es scheint, das Wesen bewegt sich selbst und tut genau dies nicht. Es wird gemartert und martert sich dabei selbst mithilfe dieses Geschirrs. Und seine Wut über die Unfreiheit treibt das Geschirr weiter, immer weiter in eine Richtung und überträgt die Wut auf irgendeinen anderen am anderen Ende der Gitterlinien, so wie der es auf es zurücküberträgt und so weiter und so weiter, wer weiß, wie tief hinein in das trübe Wasser und das weiße, weiche Fleisch. Aber es gibt noch mehr zu sehen: die Zukunft. Denn nicht weit hinter dem ersten Wesen kommt ein zweites aus dem sedimenttrüben Wasser, und ein drittes und viertes und viele weitere. Und auch in diesen Fällen wird man nicht entscheiden können, ob Fisch oder Mensch, ob senkrecht oder waagerecht, ob marternd oder gematert. Vielleicht gibt es überhaupt nur eine Sorte Wesen, das alle Möglichkeiten in sich aufnehmen muss in diesem trüben Wasser der Unfreiheit. Wer versteht schon, was hier unten geschieht und um was es sich bei den Gestellen handelt? Das ganze Meer ist durch senkrechte und waagerechte Linien strukturiert, eine Matrix der Orientierung, an denen sich die Wesen entlang bewegen. Meine Blicke sind schon so trüb, wie das Wasser dieses unendlichen Meeres, Teiches, Tümpels. Wer wird mir erlauben zu erkennen, zu ahnen und schließlich zu sehen, was es mit den Wesen und ihrem Gefesselt­Sein auf sich hat und wie sie die Welt sehen. Zwei verschiedene Blicke sind, das bemerke ich, wenig hilfreich in dieser Angelegenheit. Ich werde in Zukunft diese beiden gegeneinander arbeitenden Einheiten unserer Wahrnehmungsapparate zugunsten einer einzigen, wenn auch weniger exakten Empfindung aufgeben müssen. Ich werde, und das sobald ich wieder an der Oberfläche bin oder auf dem Grund, Schluss machen mit der Vielfalt der Blicke und Mutmaßungen. Ich werde mein zukünftiges Schicksal in diesem Weiher niemals diesen widerstreitenden Blicken überlassen. Es gibt keinen Ausweg als mich selbst in Bewegung zu setzen. Entweder mit Kraft nach oben zu stoßen, oder aber mich endgültig auf den Grund sinken zu lassen, immer entlang der Linien. Inzwischen hat auch das zweite Wesen horizontal mein Gesichtsfeld verlassen, mein starrer Nacken gestattet keine Drehung, so dass ich nur mutmaßen kann, ob das Tierwesen hinter mir die Richtung geändert hat, oder einer geraden Bahn folgend bis in alle Ewigkeit, vielleicht in der Verlängerung seiner Herkunft, weiter immer weiter treiben wird. Hinter jedem Wesen kommt, das weiß ich jetzt genau, ein weiteres und ist das eine weg, kommt stets das nächste. Und an dem Geschirr hängen alle, egal wo und auf welcher Höhe. Ich weiß jetzt genug, um mit dem Abstieg zu beginnen.


Ein Gedanke, der nicht unwichtig ist: Ein Abstieg hat hier keine Bedeutung, denn genauso gut hätte ich mich für den Weg nach oben entscheiden können. Himmel und Hölle sind auf keiner Landkarte verzeichnet und selbst, wenn sie es wären, hätte das im Nebel des aufgewirbelten Sediments hier unten sicher keine Bedeutung. Herabsinken bedeutet aufzusteigen, wenn keine Schwerkraft da ist, die ihre Unbedingtheit an meiner Masse ausprobiert. Es ist ganz gleich, ob ich steige oder falle. Und ich sehe mir dabei zu, indem ich das immer gleiche trübe Wasser an mir ununterscheidbar vorüberziehen lasse. Mehr bleibt nicht, die von der Unterwasserkälte bewegungslos gewordenen Muskeln meines Halses schmerzen. Das Licht verändert sich. Vielleicht war meine Mutmaßung doch richtig: Es gibt eine Sonne und es gibt eine Oberfläche, nur das Oben und Unten haben sich aufgelöst. Gibt es Wasserschichten in geringerer Tiefe, die ich in diesem Augenblick verlasse? Jetzt befinde ich mich auf dem Weg auf einen Grund zu, den meine Füße jederzeit berühren können. Und wie wird das sein? Ein hartes Aufkommen auf einem felsigen Boden oder knietiefes Einsinken in feinem Sand, vorher ein vorsichtiges Abbremsen durch aufgewirbelten Staub? Wie viele Meter habe ich wohl zurückgelegt in Richtung dieses unbestimmten und unberührten Ortes? Einen Ort der Ruhe und der atemlosen Weite, den keiner vor mir je betrat.