Über die Wortabstände


Beitrag zur Pataphysik



"Von daher rührt zweifellos ein Formwandel in der Literatur: von einer Lust am Erzählen und Zuhören, [...] ist man übergegangen zu einer Literatur, die sich der unendlichen Aufgabe annimt, aus dem Grunde unserer selbst eine Wahrheit zwischen den Worten aufsteigen zu lassen [...].“

(Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen)


Um den Zugang zu diesem ungewohnten Untersuchungsgegenstand zu erleichtern, ist dem Essay diese methodische Einleitung vorangestellt. Möge sie das Interesse am eigentlichen Text fördern. 


Ziel der Untersuchung ist der Versuch, einen erweiterten Zugang zu Text zu finden, und zwar nicht über den Text selbst, sondern über seine Negation: über die Wortabstände. Neben den Arbeiten Martin Heideggers erkannte ich insbesondere in John Cages Werk „4’33“ und in Robert Rauchenbergs Bildern „White Paintings“, aber ansatzweise auch in anderen Themen und Topoi (z.B. den „Phantominseln“ oder dem Märchen „des Kaisers neue Kleider“) Erscheinungen dieser "Anwesenheit eines Phänomens durch seine Abwesenheit" - dem "defizienten Modus"[1]. Ich fragte mich, wie die Übertragung auf Text aussehen könne und was das zutage tretende Phänomen sei.

 

In einem Text des Dichters Franz Josef Czernin fand ich einen Anknüpfungspunkt, den ich mit der Methode des „productive misunderstanding“ wort-wörtlich zum Ausgangspunkt einer Untersuchung nahm und damit die Wortabstandsforschung (als Teil einer allgemeineren "Abwesenheitsforschung") , oder kurz: Wafo, begründete. Kerngedanke ist es, den Text konsequent nicht von den Wörtern her zu verstehen, sondern von den Leerstellen zwischen den Wörtern, also von der Abwesenheit des Textes im Text. Dafür wurde zunächst die formale Struktur des Wortabstandes analysiert, mit dem Ziel einer Ausklammerung der Wörter aus dem Verständniszugang zum Text. Darauf aufbauend wurden die Wörter in drei Stufen abgetragen: 1) durch die Reduktion auf Einwortsätze als „Insel“ innerhalb von Wortabständen, 2) durch die Schwärzung der Wörter, d.h. die Reduktion des Textes um die Bedeutungen der Wörter und 3) durch das komplette Auslöschen der Wörter im Satz, d.h. durch die Reduktion auf die Satzstruktur des Textes ohne Wörter.

 

Nachdem nun die Wortabstände zugänglich wurden, sollten sie auch in Ihrer Bedeutung interpretiert werden. Dafür folgte ein Rückgriff auf die Methode des „automatischen Schreibens“ gemäß André Bretons „1. Surrealistischen Manifest“ von 1924. Allerdings mit der Modifikation, dass sich der Schreiber gerade nicht in den "passivsten und rezeptivsten Zustand"[2] versetzten soll, sondern seine Aufmerksamkeit dem Wortabstand – einem nach dem anderen – widme. Das automatische Schreiben setzt auf diese Weise das im Wortabstand (Mit-)Gedachte frei und manifestiert es als Begriffsblase. In Stufe 2 und 3 kommt es zusätzlich zu einer Vereinigung der Begriffsblasen. Dieses im Lesen versteckte, aber stets präsente begriffliche Grundrauschen ist im Sinne dieses Vorgehens das Pendant zum Ambientgeräusch in John Cages „4‘33“ und zum Schattenwurf auf Robert Rauschenbergs „White Paintings“.

 

Die Gedankenblasen – auch als „Denke“ bezeichnet – bilden demnach eine Art zugrundliegende geistige Sphäre ab. Das Besondere ist, dass die Gedankenblasen durch den methodisch „reduzierten Text“ vorstrukturiert sind. Die Denke in diesem Sinne ist also ein regionaler Ausschnitt einer größeren Gesamtsphäre, die vielleicht mit Bretons "Ursubstanz" zusammenfällt. So oder so, die Wafo ermöglicht auf diese Weise eine Strukturierung des wesentlich Strukturlosen: [ʃəˈwaː]


[1] Vgl. z.B. Martin Heidedder, Sein und Zeit, § 22, S. 103, Max Niemeyer Verlag Thübingen, 17. Auflage (unveränderter Nachdruck der 15. Auflage), 1993

[2] André Breton: Die Manifeste des Surrealismus („Manifestes du surréalisme“), S. 29f.. Rowohlt, Reinbek, 1986